Sonntag, November 05, 2006

Wenn Menschen "heimgehen" dürfen

Die letzten Tage waren ein wenig bedrückend, da ich einen sehr lieben Menschen verloren habe.
Obwohl ich darauf eingestellt war, ist das Gefühl, das einen umgibt, irgendwie unheimlich.

Es liegt gewiss auch daran, dass es in unserer Leistungsgesellschaft keinen Platz für Trauerarbeit gibt. Normalerweise schieben wir unsere Kranken und Alten in Krankenhäuser, Altenheime und Hospize ab, damit wir uns nicht mit Krankheit und Tod auseinandersetzen müssen. Aber gerade in der Auseinandersetzung mit diesen beiden elementaren Zuständen sehe ich die Chance, Leben und Sterben als ewas Normales, Allgegenwärtiges zu betrachten.
Der Tod hat durchaus auch etwas Positives an sich, weil er auch Erlösung im wahrsten Sinne des Wortes bringt. Erlösung von Qualen, von Ungerechtigkeiten, von Trauer, von Schmerz und von Menschen.
Während wir Lebenden um unsere Sterbenden trauern und weinen, erfahren sie bereits, was es bedeutet, "heimgehen", auf die andere Seite wechseln zu dürfen.

Dieses Schwellenerlebnis hatte auch meine verstorbene Tante. Am Morgen jenes Tages, an dem sie gegen Abend verstorben ist, hatte sie noch eine Bitte, die darin bestand, dass wir ihr die Brille geben sollten. Als sie diese aufgesetzt hatte, blickte sie in Richtung links oben. Auf die Frage, was sie denn sehe, nannte sie nur die Namen ihrer beiden verstorbenen Männer. Dabei hatte sie ein sehr entspanntes und zufriedes Gesicht und zeigte keinen Anschein von Angst oder Schmerzen. Bis zum Abend brachte sie keinen Ton mehr hervor und starb ruhig im Kreise ihrer Liebsten.
Für mich zeigt dieses Erlebnis, dass es nichts Schöneres für einen Menschen geben kann, als in Würde gehen zu dürfen. Ich wünsche mir, dass ich selbst auch einmal diese Erfahrung machen darf.